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An Online Journal of Modern Philology ISSN 1214-5505
 

DAS GEWAND DES SCHICKSALS: ein Blick auf Dmitrij Merežkovskijs Roman über Julian den Abtrünnigen (Julian Apostata) und seinen klassizistischen Symbolismus

[Fortune’s vestige: a view on Dmitrij Merežkovskij’s novel Julian the Apostate and its classicising symbolism]

Jordan Ljuckanov

2015-03-30

The study rethinks the place of Dmitrij Merežkovskij within Russian aesthetical culture between Dostoevskij and Bakhtin. This comes as a side-effect from investigating the poetics of his first novel (considered to be the first Russian modernist novel), “Julian the Apostate”, which actually has been the theme of study. A globalising conception, designating it as “classicising symbolism”, has been introduced. Restraining itself from demonstrating close analysis of the novel here, the inquiry focuses its summarising approach on two issues: of juxtaposing various drama forms within the frame of the novel and of aesthetically relevant aspects of epiphany throughout the plot unfolding (and approaching the phenomenon of cultural memory selectiveness as made manifest through preference to particular forms of synaesthesia).
In employing the concept of “classicising symbolism” the author of the work has experienced the influence of Lev Pumpjanskij (whose philological project shares genealogy with Merežkovskij’s and Bakhtin’s) and thereby has put himself in an intriguing epistemological situation.

Einleitung[1][2]

„Der Tod der Götter“ ist der erste modernistische Roman in Russland, und viele halten ihn für den besten Roman von Dmitrij Merežkovskij (1865–1941; Lyriker, Prosaist, religöser Philosoph, Repräsentant der ersten Generation des russischen Symbolismus).

Im ersten Drittel des 20.Jh. wird Merežkovskij vielfach in Französich, Deutsch, Englisch und anderen europäischen Sprachen ediert.[3] Die Popularität seiner belletristischen und literaturwissenschaftlichen Werke beruht auf der erfolgreichen Vereinfachung der Idiosynkrasie der russischen Hochkultur. Diese wird verständlicher für die westlichen Kulturtraditionen ohne ihr Geheimnisumwobenes zu verlieren. Die Produktivität Merežkovskijs und die geglückte Wahl der Umstände für die Erörterung seiner persönlichen Ansichten (emblematische Schriftsteller wie Tolstoi und Dostoevskij, emblematische Persönlichkeiten wie Julian und Peter, Künstler wie Leonardo da Vinci) sind von Bedeutung für seine Rezeption, wie auch die thematische Engagiertheit Merežkovskijs für die Geschichte der (west)europäischen Kultur. Der Eurozentrismus, die dramatisierende und klassizisierende Vereinfachungund das krypto-anthologische Interesse für große Persönlichkeiten sind effektvoll verbunden in dem literatur-historischen Sammelband,der zwei literaturkritische Beiträge und beinahe verschlüsselt im Vorwort (1896), als Leser-Tagebuch die „Ewigen Gefährten“ (1897) (Deutsch von Alexander Eliasberg Piper Verlag München 1915) enthält. Bemerkenswert ist, dass noch nuanciertere Vertreter der Besonderheiten der russischen Hochkultur und ihrer Möglichkeiten mit den Traditionen anderer Kulturen und Epochen in Kontakt zu treten, wie Vasilij Rozanow oder Pavel Florenskij, erst viel später (und wohl nicht nur wegen der Ereignisse von 1917) das Interesse Westeuropas auf sich ziehen, vor allem auch solche Persönlichkeiten wie Georgij Florovski, Vladimir Loskij und Johann Meyendorff, die die autoreflexive Sublimation der russischen (eigentlich der ost-christlichen) Kultur in der neopatristischen Synthese darstellen.

Die folgende Untersuchung ist sich des Kombinierens von trägem Konservatismus und Neuheit als Herangehensweise an Merežkovskijs Werk bewusst. Außerdem stellt sie nur einen Anfang dar und bleibt daher manchmal auf Thesen beschränkt: sie bietet eine Hypothese an, die in Zukunft weiter auszuarbeiten und zu diskutieren sein wird. Dennoch beruht die Untersuchung auf Kenntnis der Quellen (insbesondere der Hauptquelle, des Juliansromans). Auf den Roman wird im Text nach den Konventionen der Altertumswissenschaften verwiesen („Teil, Kapitel“). Zu Beginn sei der Leser auf die Online-Verfügbarkeit des Romans verwiesen.[4]

Genrezugehörigkeit, Gestalten und Ideenstruktur des Romans

Hellas ist ewig, das Christentum ist vergänglich. Die griechisch-römische Welt geht unter: die, von denen ihre Rettung abhängt, besitzen nicht ihre Bildung und ihre Tugenden; die, die sie besitzen, haben nicht den Willen zur Tat, denn sie spüren oder verstehen, dass ihr Untergang das Schicksal ist, das nicht von ihnen abhängt.

Die erste Botschaft ist in den ersten zwei bis drei Absätzen des Romans über Julian enthalten. Man findet sie in der kurzen protokollarischen Beschreibung des Ortes und der Räumlichkeiten, an denen sich die Handlung des ersten Romankapitels abspielt. Die zweite Botschaft leiten wir von der Analyse der Gestalten her ab, die im ganzen Roman oder episodenhaft vor allem in seinem ersten Teil auftreten.

Der Roman von Merežkovskij ist eine moderne Ausdrucksform, die erstens die Tragödie, als welche die Geschichte gedacht ist, und zweitens die „Umstände“ für die dramenhafte und dramatische Darstellung voraussagt. Die Geschichte ist der Zusammenprall und die Abfolge von Weltsichten und verdinglichten Ideen, die nicht auf gegenseitiges Verständnis stoßen. Sie ist Dialektik ohne Dialog. Schlimmer noch, sie ist keine Dialektik, sondern: „These – Antithese – Zäsur“ (Untergang oder Übergang). Die Dynamik der Welt bei Merežkovskij ist eine gehemmte Dialektik. „Bei jedem dritten Schritt“ findet der Geist nicht seine „reinere, reichere und bestimmtere Ausdrucksform“[5], sondern fällt in einen Abgrund, in dem die beiden Orientierungspunkte (These und Antithese) sich dem Blick oder der Berührung entziehen oder sich in der Falle der Gegensätze zwischen ihnen festklemmen und sich gegenseitig bekämpfen, der „dritte Schritt“ als Synthese ist ein Schein, gewünscht, benötigt, doch unerreicht, trotz des titanischen Bemühens der Persönlichkeit.

Das Wesen der Tragödie, vorausgesagt und voraus beschrieben, besteht im Roman über Julian im Folgenden: Hellas ist ewig, doch die griechisch-römische Welt geht unter. Es liegt in der Sicht auf die Botschaften, die wir hier der Analyse unterziehen: ansonsten gibt es auch andere Botschaften. Der Roman stellt den Verlauf der Handlung im Schatten der Tragödie dar, wie auch die parallel verlaufenden Handlungen, er beschreibt Personen, die die Last der Gewalt ertragen könnten, ertragen haben oder nicht ertragen können – um das Schicksal, das zum Untergang führt, abzuwerfen. Der Roman hat die Möglichkeit, die tragischen Kollisionen und die tragischen Hauptfiguren zu vervielfältigen, in einer Komödie darzustellen, in einer Parodie, einer Travestie, in einer anderen oder einer falschen Tragödie, sie umzuwandeln und zu verändern im Tonfall und aus der Sichtweise einer Elegie und der Elegik, der Idylle, er kann die Handlung in einen belehrenden Vorfall verdichten oder als Satire im Sinne von Horaz erzählen. Man kann sie zu einer rituellen Handlung verkürzen oder die Kopie einer Alltagssituation daraus machen (die Schlachtung durch einen Metzger zeigen o.ä.), man kann die Aufmerksamkeit von ihr ablenken und sich auf das „Drama der Satiren“ konzentrieren, die ihre Zeit und ihren Ort umgibt, oder Handlungen der der Vorstellung Beiwohnenden einbeziehen. Man kann das „Dargestellte“ weiter führen oder bei einem beliebigen anderen Moment beginnen. Man kann den einen oder anderen Moment oder die eine oder andere Gestalt unbeweglich als Statue oder als Bild zeigen. (Die „innere Form“ des Romans ist unterschiedlich und ungleichmäßig betont; mal ist sie als gemalte oder graphische Zeichnung angelegt, mal als bildhauerische Komposition.)[6] In solchen Zickzacklinien nimmt der Roman über Julian den Abtrünnigen die erwähnten konkreten altgriechischen und römischen Literaturfiguren auf – manchmal sieht man nur ihre Silhouette, manchmal aber auch die Figur in allen Einzelheiten.

Der Roman über Julian beginnt mit einem Vorfall auf der „Vorbühne“ – ein parodistisch-travestitives Bild und Vorzeichen einer Tragödie. Ein „gemäßigter“ Protokollismus und religiöser Symbolismus treffen aufeinander. Die bedeutsamen Momente und Namen in der Symbolik weisen auf die „metaphysische“ Bedeutung im Umgang mit der klassischen Bildung hin, sogar auf die in der Schule erworbene klassische Informiertheit. Das Herangehen (die Poetik) können wir als „fantastischen Realismus“ und als „klassizistischen Symbolismus“ deuten.

Die Sichtweise, die den Vorfall und die Situation darstellt, ist ungewöhnlich. Sie ist nicht die Sichtweise eines „realistischen Künstlers“, der die Sichtweise des europäischen Naturwissenschaftlers des 19. Jahrhunderts als „gegeben“ ansieht. Aber es ist auch nicht die Sichtweise eben dieses Künstlers, der erkannt hat, dass durch die realistisch-veranschaulichte gegenständlich – psychologische Wirklichkeit einer anderen Zeit und eines anderen Ortes die Wirklichkeit übersinnlich wird, was nicht darstellbar ist. Der Künstler bei Mereshkovski nimmt – für sich, nicht für seine Gestalten, – die Vorstellung, den Sinn und das Gefühl für den Aufbau der Welt „als gegeben“ an, dass sie nichts gemeinsam haben mit den wissenschaftlichen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts. Merežkovskij zeigt einen Teil des „antiken Kosmos“ als Ausdruck der Normen seiner zeitgenössischen künstlerischen Auffassung. Die Welt im Roman über Julian ist durchdrungen von Verdinglichtem, vom Vorhandensein und der Vereinigung der vier Elemente – Wasser, Luft, Feuer und Erde. Man muss nicht den ganzen Text des Romans durch den Filter dieser Lesart betrachten, um zu sehen, dass sie keine von mir, dem Erforscher dieses Textes, ausgedachte Geschichte ist. Erstens ist die sinnlich-berührbare Körperlichkeit der Elemente nur eine der Formen ihres Erscheinens und Daseins. Zweitens verlangt eine gute künstlerische Darstellung und ihre daraus folgende Symbolhaftigkeit momentane Erscheinungen. Diese Erkenntnisse überzeugen uns von der Richtigkeit des von Lev Pumpjanskij[7] entliehenen Begriffes – klassizistischer Symbolismus[8]. Es ist kein „antiker“, denn bei Merežkovskij ist die Intuition der Weltsicht der „Faustschen“ Kultur sehr stark und vielfältig. Es ist ein „Symbolismus“, denn die vielschichtigen Botschaften bei Merežkovskij haben nicht die kategorische und knappe Aussage der Allegorie. Das, was oft als Allegorie bezeichnet wird (neben Begriffen wie „Schematisierung“, „Nachdenklichkeit“, „Dichotomie“), ist unserer Auffassung nach der „Rahmen“, innerhalb dessen sich der Symbolismus von Merežkovskij vollziehen und verwirklichen kann. „Die Geschichte ist ein Zusammenstoß von Hellenismus und Christentum, eine Dialektik ohne Dialog“ – das ist der Ausgangspunkt für die Bestimmung des Begriffes „diese Welt“. Wenn sich eine Person daran eindeutig hält, dann ist es das Unterpfand dafür, dass sie eben diese Welt meint und keine andere, doch die Möglichkeit, dass diese Person zum Symbol wird, vollzieht sich in anderen Richtungen, sie deutet andere (vom Ausgangspunkt abgeleitete) Wahrheiten an.

„Tragisch“ „streiten“ Hellas und das Christentum, Rom ist das zeitweilige, aber recht lange getragene politische „Gewand“ der hellenischen Kultur. Der Osten, der von der griechisch-römischen Ökumene erfasst wird, ist die niedrig stehende, gesichtslose Masse, vielleicht ein Produkt der Zersetzung des „Athenischen“ und eines ähnlichen „Demos“ (s. „Akropolis“[9], „Julian“ Teil 1, Kapitel VI u.a.) oder ein Individuum mit dubiosen Charakter und zweifelhaften Eigenschaften, dargestellt hier in der Person des armenischen Wirtes Syrax, den der Erzähler eine Karikatur von Dionysos nennt (1, І). Der „äußere“ Osten ist eine angedeutete Gefahr (vergleiche die Darstellung des Wanderastrologen Nogodares, und seine irreführende Rolle in der Mikrohandlung des 1, І hindurch). Der „innere“ Osten, die Levante, ist die „minderwertigere“ Vorbühne, die Bühne der Komödie, der Parodie oder der Travestie, auf ihr spielt sich die als Karikatur maskierte Provokation ab (1, І; 1, VІ). Der römisch-persische Konflikt tritt zurück in die Vergangenheit, gleichsam als Episode oder Hülle des hellenischen Zusammenstoßes mit dem „Osten“: dem real-bedrohlichen „äußeren“ (Persien) und dem „inneren“ (religiöse Lehren wie auch das Christentum). Dieser „Osten“, eher „äußerlich“ und unverändert, ist zweideutig wie Dionysos. Die Beziehungen zwischen der griechisch-römischen Welt zur östlichen (sogar mit dem eigenen „Hinterhof“ – Kappadokien, Syrien) sind dargestellt im Lichte des Mythos der Beziehungen zwischen Hellenen (genauer – Athenern) und dem mit ihnen kämpfenden Dionysos[10]. Doch der Kern der Gegensätze berührt Hellas und Christus; das ist die Botschaft, die so intim bei Merežkovskij auftritt, dass sie von niemandem entliehen sein kann.

Der Protagonist bietet eine Antwort an auf die für jede Tragödie so grundlegende Frage – „Warum?“. Die griechisch-römische Welt weicht vor der Predigt (der christlichen) zurück, die ihre Weltanschauung in Frage stellt. Sie weicht auch der ewig bedrohlichen Versuchung des Ostens aus – besiegt von dem mit den Hellenen kämpfenden Dionysos, (was dem Mythos nach, beeinflusst von Plutarch und anderen, Alexander in den Wahnsinn treibt und ihn vernichtet). Die griechisch-römische Welt ist sich länger nicht mehr sich selbst treu, ergibt sich dem Fremden, verliert ihr eigenes Antlitz. Verkörpert wird das durch Mark Skudillo, eine Person, die bereits im ersten Kapitel auftritt. Doch auch in der eigentlichen sterbenden Welt gibt es einen Teil, der zum Untergang verurteilt ist: Rom, das in linear verlaufender Zeit existiert, im Gegensatz zu Hellas, das in Erwartung der Auferstehung in zyklischer Zeit lebt; – diesen Eindruck erweckt das Aufeinandertreffen der Meinungen der beiden miteinander Sprechenden – Julian und sein Freund Antonius. Ein Teil der Personen tritt paarweise auf – besonders deutlich sieht man das bei Julian und seinem Bruder Gallus. Der Text verleitet uns, ihn so zu lesen, wie Sergej Averincev (1973) das Porträt-Diptychon von Plutarch liest; er führt uns zu der Technik des „rhetorischen Rationalismus“ (Averincev 1981) als seine Rezipienten, die von seinem Bau beeindruckt sind. Der Ideengehalt des Romans, und nicht nur eine Porträtzeichnung, deuten auf Plutarch zurück.[11]

Der Vergleich der Brüder Julian und Gallus in 1, II zeigt, dass Apollon tot ist, Dionysos jedoch noch lebt. Apollon lebt weiter in den ihm Ähnlichen, eher tierischen (nicht menschlichen) Gestalten (Gallus), in den durch ihr Äußeres blendenden Missetätern (Skudillo), in kranken oder schlaffen Kindern (Antonius). Der Vergleich der beiden hochgestellten Brüder ist ein Schlüssel zum Verständnis eines Teils der Struktur des Romans; er vereint Komödie und Tragödie, Kernstück eines Teils von etwa zehn Seiten eines Kapitels (1, VI) und andererseits ausgebreitet im ganzen Roman.

Das Nicht-Begegnen der beiden Brüder Julian und Gallus, ihr Verbleiben in den Parallelwelten von Tragödie und Komödie (Travestie, Parodie) ist ein Vorzeichen (vgl. auch 1, ХІ) dieser Wahrheit: das Schicksal verstrickt in die Dialektik ohne Dialog, der Mensch ist allein. Das Familiendrama, das die Tiefe einer Tragödie hat, ist eine Form der menschlichen und Menschheitsauswirkung, eine Form der Menschhaftigkeit, die uns als Zeitgenossen von Merežkovskij und Julian – verloren gegangen ist.

Der Vergleich der Freunde Antonius und Julian zeigt (vgl. 1, ІХ), dass der Römer in linearer Zeit, der Hellene – in zyklischer Zeit lebt, dass Hellas stirbt und nur als Subjekt der Sehnsucht wiederauferstehen kann – zumindest in der Zeitdauer des Romans.

Die Betrachtung der beiden Helden des Athener Literatursalons im 4. Jahrhundert, Mamertin und Gargilian (1, ХІІІ), zeigt den Verfall des “spätantiken“ ästhetischen Geschmacks, nach dem der Mensch das Maß aller Dinge ist und der „die Form“ zum „Inhalt“ macht , die wie eine durchsichtige undurchdringliche Hülle wirkt.

Der Vergleich Julians und Arsinoe (vgl. 1, ХІІ, ХІV; 2, VІІІ, ХVІІ u.a.) zeigt zwei Beispiele für die Nichtvereinbarkeit zwischen der hellenischen und der christlichen Weltsicht. Julian widersteht sein Leben lang dem Galiläismus – steht im Schatten des Galiläismus; Arsinoe sucht das Heil ihrer Seele im hellenischen Heidentum, später im Christentum, doch sie findet es weder hier noch da. Beide, die füreinander bestimmt sind, können nicht zueinander finden. Das Sich-Verfehlen und die undurchdringliche Durchsichtigkeit des sich nicht Verstehens sind der symbolische Ausdruck für die menschliche Existenz im Roman – seine dynamische und seine statische Seite. Die Begegnung und die undurchdringliche Durchsichtigkeit der Liebe und Leidenschaft sind das symbolische Schema der von Merežkovskij ersehnten Existenz. Sie bezieht sich auf die Beziehung des Menschen zum Menschen und zu Gott. Es hat biografische Spuren hinterlassen und findet seinen Ausdruck im Roman über Julian (1, V).

Die Gegenüberstellung von Julian und Arsinoe zeigt die historiosophischen Sympathien von Merežkovskij[12]. Sie entsprechen nicht dem Kontext des 19. Jahrhunderts, welches in wissenschaftlicher Form den egozentrischen Mythos in der Kultur Europas in der Nach-Renaissance-Zeit ausgedrückt hat; die Geschichte fließt von Südosten nach Nordwesten.

Im Hintergrund des Textes erkennt man, welche Zeiten, welche Orte und welche Personen den zweiten und dritten Teil der Romantrilogie („Die Auferstehung der Götter. Leonardo da Vinci“ und „Der Antichrist. Peter und Aleksej“) bestimmen.

Die Gegenüberstellung von Julian und Arsinoe[13] sind ein Teil des Schlüssels zum Verstehen, warum „Der Tod der Götter“ ein Mythos in Romanform ist, ein Mythos mit Vorbildern aus der altgriechischen Mythografie. Es gibt viele Vorbilder und manche sind zweifelhaft, was den Roman in eine andere Lage versetzt als die Werke mit mythologischem Sujet aus der vor-modernistischen Zeit. Der Roman wendet sich weniger der Mythografie zu als der diskursiv ungeordneten Mythologie, zu Vorstellungen, die nicht in Erzählungen gefasst sind. Das Geschehen im Roman ist zumindest dreideutig, es findet seinen Widerhall in der „realistisch“ wiedergegebenen „Wirklichkeit“ des 4.Jahrhunderts, in der „Vielstimmigkeit“ der bekannten und antik anmutenden literarischen Gestalten und der wie in einer mythischen Erzählung übersinnlich geschwängerten Umgebung, die im Roman „Hellas“ genannt wird. Merežkovskij ist nicht weniger mutig als Innokentij Annenski, der die Tragödie von Euripides umschreibt, sie „zu Ende schreibt“, auf einer angenommenen mythografischen oder mythologischen Grundlage. Er ist nicht weniger mutig als Vjačeslav Ivanov, der die nicht verloren gegangene, sondern wohl nie geschriebene Tragödie von Aischylos (Prometheus)[14] wiedererstehen lässt und ihre ursprüngliche Kosmogonie darstellt, ohne die zusätzliche Kosmologie, die Entstehung der Erde, ohne seine Auffassungen von dem „Geschehenen“[15].

Die Reihe von Porträts zeigt die Geschichte einer auf den Gesichtern zum Vorschein kommenden Krankheit (am deutlichsten bei den anscheinend episodisch gepaarten Antonin und Julian zu sehen). Merežkovskij kennt wahrscheinlich die spätrömischen plastischen Darstellungen, die deutlich den „Verfall der Sitten“ dokumentieren. Historiografisch und kunstwissenschaftlich gleich bedeutend, werden die Denkmäler und Quellen aus der Epoche seit dem 19. Jahrhundert eher als Zeugen für den Niedergang als für grundlegende Veränderungen angesehen. Das entspricht auch der Auffassung von Merežkovskij, der die Vorurteile der Aufklärung gegenüber dem Mittelalter teilt. Doch unter den physiognomischen Versuchen Merežkovskijs gibt es auch ein besonderes Porträt von Julian. Julian ist äußerlich missgestaltet, aber im Inneren ein wunderbarer Mensch, seelisch und geistig stark. Das bezeugt auch Julians Weggenosse, der Historiker Ammianus Marcellinus („Res Gestae“). Doch wichtige Momente der Gestalten eines Romans lassen sich nicht durch ihre Übereinstimmung mit den historischen Quellen begründen. Die Gestalt des Julian ist ein Bild, „das nicht zueinander passt“. Seine Poetik von Victor Hugos Quasimodo herzuleiten oder vom „Lachenden Mann“ würde bedeuten, dass wir Merežkovskij unterschätzen. Das „nicht zueinander passende Bild“ ist das künstlerische Zeugnis für die vollkommene „Vermenschlichung“ von Gottes Sohn und der Ausdruck einer der wichtigsten Botschaften der frühchristlichen und der byzantinischen Kultur. Die vollkommene Menschwerdung garantiert die Teilhabe an einer zutiefst menschlichen Erfahrung, der Erfahrung des Sterbenden und dient den Menschen als Vorbild – keine Furcht davor zu haben, teil zu haben an der Erfahrung des gestorbenen und wieder auferstandenen Lazarus. Merežkovskij sind die byzantinischen künstlerischen Bilder fremd, doch er besitzt das philosophische Einfühlungsvermögen und die tiefe Kenntnis der Bibel, um diese Wahrheiten des christlichen Glaubens zu verstehen. Die Kritik an der Geldgier und der Eitelkeit der Geistlichkeit, an der Pracht der frühbyzantinischen Kunstdenkmäler (Julian 1, IV; XV u.a.), obwohl sie aufklärerische Impulse vermitteln können, ist ein indirektes Zeugnis dafür. Als direktes Zeugnis dient Julian. Julian der Abtrünnige ist der heimliche – verheimlicht vor seinem eigenen Gewissen – Beichtvater der Christenheit; das wird durch Arsinoe verkündet, von der ihm zugedachten und nicht angetrauten Ehefrau. Es wird der Blick auf die Welt verkündet, der ihn sichtbar macht, der uns lehrt, die Nichtübereinstimmung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren zu erkennen. Diese Weltsicht ist wie eine Idee, die durch die Verbreitung des Christentums Gestalt annimmt. Und das bis zu einer Stufe, in der sie „Fleisch und Blut“ wird und fassbar in den Köpfen mancher Menschen. Diese optische Vorstellung, diese Sicht, heilt sich selbst in menschlicher Form – auch durch Julian. Wir beschrieben bereits die Herkunft Julians und sein Äußeres von einem Standpunkt aus, der dem Neoplatonismus nahe kommt, von einem Standpunkt, den wir bei Merežkovskij vermuten: wenn nicht als bewusste Position, so doch als im Unterbewusstsein vorhandene Neigung oder Einstellung. Julian ist nicht einfach eine individuelle Erscheinung des Geistes von Hellas, die in der nicht typischen Missgestalt ihre sichtbare Form erhält. Der Geist von Hellas ergießt sich in Formen, die als „schön“ angesehen werden. Durch Julian zeigt sich ein anderer Geist, vielleicht ein „biunikaler“ (hellenisch-christlicher) und Julian ist sich nur seiner einen Seite, der hellenischen, bewusst. Julian ist die menschliche Form des historisch Existierenden nach der Auffassung von Merežkovskij – die Dialektik ohne Dialog.[16]. Dieses Symbol ist vielseitig, durch Julian zeigt es sich dem Leser von Merežkovskij in seiner menschlichen Form. Die „Ausheilung“ dieser bis dahin trostlosen Dialektik im Dialog sieht Merežkovskij als bevorstehend an, als notwendig und der Zukunft verpflichtet; doch dieser Moment liegt am Ende der Geschichte, also auf eine Weise außerhalb von ihr.

Der Roman über Julian zeigt nicht die Tragödie von Menschen, die in der Geschichte leben, sondern die Tragödie von Menschen, die die geschichtlichen Epochen und kulturellen Räume personifizieren.

Kurz zusammengefasst: 1. Das „klassizistische Symbol“ besitzt die Kraft, den „antiken Kosmos“ auferstehen zu lassen (in seiner dynamischen Kompliziertheit; die Bewegung wird dargestellt als Möglichkeit, in jeder Form einer alchimistischen Ordnung anzugehören, einer Ordnung der Veränderungen, (nicht einmaliger und darum wunderbarer, sondern ständiger). 2. Das durch literarische Gestalten aus der Antike angereicherte „Gedächtnis“ des Romans schafft „eine Sammlung verschiedener Handlungen aus vielen Dramen“. (Das ist der Versuch Merežkovskijs, die Erfahrung aus dem Roman von Dostoevskij anzuwenden.)

Die erste Schlussfolgerung kann ergänzt werden. Wenn die Metamorphose des in diesem Roman beschriebenen Kosmos die beständigste Eigenschaft der Darstellung ist, dann wird diese Eigenschaft durch die stete und allumfassende Anwesenheit von fremdem Text, sowohl aus „Werke und Taten“ von Hesiod als auch aus den „Metamorphosen“ von Ovid ergänzt. Vor diesem Hintergrund findet man auch andere fremde Texte im Roman über Julian, ein Hintergrund, der Chronotopoi und Gestalten des Romans implizit bewertet, die an zweiter, zweitrangiger Stelle im Roman stehen. Ein Beispiel: In 1, I wird der Kosmos der ständigen Metamorphosen eingeführt[17]; in 1, VI erscheint auf dem bereits geschaffenen Hintergrund der Abenteuerroman von Petronius „Das Satirikon“[18], und als beiläufige Veränderung „Der goldene Esel“ von Apuleus[19].[20]

Personen und der Chronotopos in 1, VI sind Bilder eines zerfallenden Kosmos, einer „entzauberten“ Welt, die sich von der dynamischen Einheit der ständigen Metamorphosen entfernt hat. Eine solche Einschätzung muss nicht extra betont werden.

Die zweite Schlussfolgerung kann durch das Argument bestritten werden, dass nur wir, die den Text Erforschenden, diese „Sammlung…“ sehen, und dass jeder Roman als ein Ganzes unterschiedlicher Genremomente gesehen werden kann, die in unterschiedlichem Maße als „innere Formen“ „erhalten“ sind oder sich „emanzipiert“ haben, auch der Sinn des Begriffes „innere Form“ kann umstritten werden. Doch der weltanschauliche und intellektuelle Stil von Merežkovskij lässt derartige Einwände nicht zu, soweit ihm die terminologische Disziplin, die eine regelmäßige Unterscheidung zwischen „formaler“ und „inhaltlicher“ Reihenfolge vornimmt, fremd ist, trotz aller guten „klassischen“ Bildung und jener Disziplin, die eine regelmäßige Unterscheidung von „immanentem“ und „hineingetragenem“ Sinn verlangt.[21]

Wenn die Summe von Tragödien, tragischer Elemente und Widerspiegelungen die innere Form der Semantik dieses Romans ist, dann ist die innere Form seiner Pragmatik die Elegie.

In dieser Elegie oder dem Elegischen verbirgt sich, umgewandelt, ein anderes Drama. Es ist so persönlich, dass es nicht ohne historisches Gleichnis dargestellt werden kann (durch die Allegorese, nicht die Allegorie, denn der Sinn gibt sich nicht zufrieden mit eindeutigen Entsprechungen von dekadenter Gegenwart und später Antike, legt nicht fest, was bezeichnet ist und was zu bezeichnen ist, sondern rechnet mit dem Mitbezeichneten, mit der drohenden Mitbetroffenheit und Miteinbezogenheit als eine sinngebende Matrix). Die Verdinglichung der antiken Welt und Weltsicht als Pol einer universellen Spaltung (der Spaltung in Hellenismus und Christentum), die keine Spaltung in „eigen“ und „fremd“ bedeutet, zeigt ganz klar, dass die Antike Vergangenheit ist, einfach vergangen. Merežkovskij möchte sich befreien von der zur Last der Geschichte gewordenen Welt- und Erfahrungsperspektive (besonders konzentriert in der Reisebeschreibung „Akropolis“), doch es gelingt ihm nicht. Seine Historiosophie, sein Eschatologismus sind Erscheinungen seines „faustischen“ Bestrebens nach Unendlichkeit, obwohl gemildert, beruhigt in einer sowohl zeitlichen als auch räumlichen Ausdehnung (durch die Diade Hellas – Christentum als auch der Triade der drei Gebote aus den 1900er Jahren). Ich bin versucht diesen Bau der Geschichte als Renaissance-Gebäude zu bezeichnen, oder eher noch als neorenaissanceartiges Gleichgewicht zwischen der „hellenischen“ und der „faustischen“ Seele, als ihr gemeinsames Werk. Die persönliche Tragödie des frühen Merežkovskij, der uns davon überzeugen will, dass Hellas ewig sei (und das Christentum – vergänglich) liegt darin, dass er sich nicht vollständig darin wohl fühlen kann. Mit „Julian“ schafft Merežkovskij eine elegische Erzählung über seine eigene Tragödie (nur angespielte in „Akropolis“, nur umrissene im Gedicht „Das leere Glas“), indem er die Tragödie seines eigenen historischen Prototyps darstellt. Nach „Julian“ findet sich Merežkovskij damit ab, dass er die Tragödie des letzten Hellenen geschrieben habe und von einem Elegienschreiber wird er zum Verfasser von Sonetten. Die Elegie ist der lyrische Nerv des Romans über Julian, das Sonett – die lyrische Erleuchtung der Romantrilogie „Christus und Antichrist“, die auch die folgenden zwei Teile „Leonardo da Vinci“ und „Peter und Aleksej“ umfasst.[22]

Die Gotteserscheinung bei Merežkovskij

Welche Vorstellung hat Merežkovskij von der Erscheinung Gottes? Wann ist er erschienen und in welchen Formen hat er sich gezeigt? Ich spreche hier von Formen in der einen oder anderen Art von Kunst, vielleicht auch von Formen, die typisch sind in der einen oder anderen Kultur.

Die Formen des Gottsehens und der Gotteserscheinung sind ein Schnittpunkt von philosophischen Thesen und künstlerischen Auffassungen. Für die einen sind sie der Prüfpunkt, für die anderen – Vorbilder. Sie berühren das Innerste der Persönlichkeit mit der davon unabhängigen philosophischen Vernunft und dem Sinn für das Schöne. Das Gesagte ist wahr, wenn das Innerste lebt und der Mensch tatsächlich so etwas wie einen religiösen Kontakt zu seinem Nicht-Ich praktiziert. Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass der innere Mensch bei Merežkovskij tot oder begraben ist. Wir haben auch keinen Grund zur Annahme, dass Merežkovskij der Erzähler und Merežkovskij der Lyriker einander fremd sind, wenn er die Begegnung Gottes mit dem Menschen beschreibt. Wir nehmen nicht an, dass er seinen Leser oder sich selbst täuscht oder dass er gleichgültig gegenüber den Erscheinungen in seiner Begegnung ist – weder gegenüber seinem Selbst, noch gegenüber dem ihm Erscheinenden.

An der Begegnung nehmen zwei teil – Gott und der, dem Gott erscheint. Dieser Begegnung kann auch ein Dritter beiwohnen – ein Zeuge, ein indirekter Teilnehmer an der Begegnung. Der von der Begegnung Betroffene kann auch die Sicht des „Dritten“ vertreten.

Merežkovskij stellt die Gotteserscheinung auf beide Weisen dar; wir können sogar den Übergang zwischen beiden verfolgen, oder das „Hineinwachsen“ der ersten Situation in die Sicht des „Beobachtenden“ oder sich Erinnernden. Die Anwesenheit des „Dritten“ ist meist zurückhaltend, schweigend oder aber „verdinglicht“.

In den Werken Merežkovskijs aus den 1890er Jahren gibt es wenigstens drei Szenen der Gotteserscheinung oder Gottbegegnung, jede von ihnen ist von besonderer Art. In „Akropolis“ ist der Erzähler oder (Reise-)Beschreiber keine andere Person, als das biografische Ich von Merežkovskij, welches persönlich und unmittelbar erleuchtet und durchdrungen ist von der Anwesenheit Gottes. In dem Gedicht „Leda“ beobachtet das Subjekt der lyrischen Aussage ohne Anzeichen einer persönlichen Anwesenheit die heilige Vereinigung Ledas mit dem Schwan – die Erwartung zuvor und die Folgen für die Nachkommen. Im Roman über Julian (1, V) stellt der „alles Sehende“ Erzähler Julian dar, dem im Gebet die Schaffung der Statue der Aphrodite bevorsteht. Dabei wird ihm nachsichtig die himmlische Aphrodite helfen. Julian ist es vom Schicksal her bestimmt, „ein früher Vorbote eines äußerst verspäteten Frühlings“ zu sein. So wie Merežkovskij – ich zitiere das auf sich selbst bezogene Gedicht von Merežkovskij „Kinder der Nacht“ (Deti noči) 1894. Julian ist geblendet durch die Statue so wie Merežkovskij. Die Begegnung Julians mit Aphrodite Urania während seiner Arbeit an ihrer Skulptur synthetisiert die Erfahrung mit den anderen zwei Begegnungen. Das verdinglicht das Maß der Übereinstimmung Merežkovskijs mit dem Schwan, in dessen Gestalt der altgriechische Gott auftritt. Julian ist das Symbol für den „inneren“ Menschen von Merežkovskij, er vermischt sich, er setzt sich dem antiken Gott gleich. Die Arbeit an der Skulptur sammelt die Energien der archaischen Erdgöttin und der Göttin der Nacht, die die Gestalt Ledas angenommen hat und der Göttin des Himmels, der Ganzheit, der Sinn und die Notwendigkeit für das Dasein einer jeden Göttlichkeit.

Die deutlichste und die Intimität nicht verbergende Darstellung der Gotteserscheinung finden wir in der „Akropolis“ von Merežkovskij. Die Begegnung mit „Gott“ ist hier als persönliches Erleben des Erzählenden geschildert. Es ist der Moment, als er sich vor und inmitten der steinernen Plastik befindet – die Plastik einer Landschaft, die zur Architektur wird und in den Skulpturen ihren Höhepunkt findet. Die Plastik ist vergleichbar mit dem „kleinen Kosmos“ des menschlichen Körpers einerseits und mit dem „großen Kosmos“ der Polis andererseits. Diese Plastik drückt sich als verkörperte Idee aus und als nachsichtige Realität. Sie zeigt nicht „Jemanden“, den wir als Gott oder göttliche Person erkennen können. Wenn du die Realität erfasst, in der sie erscheint, so befreist du dich von der „Last der Geschichte“ und der zweitausendjährigen Geschichte des Christentums. Der Ort der Begegnung ist der Ort der Andacht, er war schon in Vorzeiten bekannt und es führte ein Weg zu ihm. Merežkovskij reichert den Weg mit Einzelheiten an, wodurch wir ihn als den Kreuzweg und den Erzählenden als den Gekreuzigten erkennen.

Die in der „Akropolis“ beschriebene Begegnung kann philosophisch als Begegnung zwischen dem hellenischen Glauben und dem Christentum gedeutet werden. In dieser Begegnung wird die Gottmenschlichkeit von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, auf seine Menschlichkeit reduziert, der Menschlichkeit des Pilgers nach Athen. Die Göttlichkeit von Gott-Vater trägt keine Persönlichkeitszüge. Er ist durch irgendeine Gottheit ersetzt. Die Realität des Heiligen Geistes und der Heiligen Kirche ist ersetzt durch das plastische Sein einer plastisch-verdinglichten Idee. Hier ist indirekt die vollständige dogmatische und ästhetische Hellenisierung des Christentums vollzogen.

Die Ansichten Merežkovskijs werden sich in den Jahren verändern und dadurch machen sie die verschiedenen philosophischen Botschaften der Gotterscheinungsauffassungen sichtbar. Während in der Mitte der 1890er Jahre Merežkovskij den Wert des Christentums leugnet, beweist der Text der „Akropolis“,[23] was im Roman über Julian deutlich gesagt wird: das Christentum ist die wertvolle Einheit von Jesus Christus mit den Gemeinden der Gläubigen in den ersten ein-zwei Jahrhunderten seines Bestehens. Inwieweit am Ende des Jahrhunderts und danach Merežkovskij eine Übereinstimmung und wechselseitige Einwirkung auf die Weltsicht von Christentum und Hellenismus sucht, so zeigt der Text etwas anderes: er sieht den hellenisch-christlichen Kosmos nicht in den hellenisch-christlichen Formen, sondern in den „rein-hellenischen“ Formen des Schönen. Wenn wir diesen Formen in der Perspektive der zweitausendjährigen christlichen Geschichte einen Sinn verleihen, so werden wir sie als westlich-christlich (und beherrschend post-mittelalterlich) sehen. Diese Formen sind die Bildhauerei und die Tragödie, die Malerei und die Architektur nach antiken Vorbildern. Das von uns Angeführte ist in der Gotterscheinungsszene nur angedeutet, doch es wird deutlich im Kontext der ganzen Reiseerzählung und in anderen Momenten in den Werken von Merežkovskij.

Die Zugehörigkeit der Gestalt Gottes bei Merežkovskij zum antiken und westeuropäischen Kreis von Vorstellungen tritt deutlich in der Gestalt Gottes bei Vladimir Solov‘ev hervor. Solov’ev erscheint die Ewige Weiblichkeit oder Sophia, die Weisheit Gottes (siehe sein autobiografisches Poem „Drei Begegnungen“, 1898). Sie ist persönlich anwesend (das ist nicht der Fall bei der erleuchtenden und plastischen Göttlichkeit in „Akropolis“). Sie ist die personifizierte Form der sich gegenüberstehenden himmlischen und irdischen Welt, sie hat die historisch bestehende Welt „durchdrungen“, so dass die Geschichte keine Last zum Abwerfen ist, wie bei Merežkovskij. Die Welt bei Merežkovskij lebt im Widerschein der erleuchtenden plastischen Idee, jeder bleibt in seiner Welt, so dass der Widerschein dunkler wird und der Schmutz der Geschichte überhand nehmen kann. Im Licht des Vergleichs ist der Kosmos von Merežkovskij dualistisch, manichäisch; der Kosmos von Solov’ev nicht. Sophia hat in den Visionen von Solov’ev die ästhetische Ausstrahlung einer Ikone, ihre Gestalt ist wie auf einer Ikone dargestellt.

Durch die „grobe Hülle der Materie“ sah Solov’ev die „unsterbliche Durchsichtigkeit der Gottheit“. Gott und das Wunderbare (das Gute, Schöne und Wahre bei Solov’ev) verbergen sich auch im Unansehnlichen, Missgestalteten, Armseligen (убогое). Aus der Sicht des Glaubens, dass Gottes Sohn die menschliche Natur, das Leid und das Sterben widerspruchslos angenommen hat und dass sein Weg den Menschen die Erlösung bringt, ist diese Ästhetik die einzig notwendige und mögliche. Merežkovskij lässt einen eindeutigen Kompromiss mit dieser Ästhetik nur einmal zu: sein Julian ist beinahe missgestaltet. Die Bedeutung dieser Gestalt habe ich an anderer Stelle analysiert. Wesentlich ist, dass Gott (der Gott, das Göttliche) bei Merežkovskij nie so auftritt. Eine „missgebildete Gestalt“ (образ несходный) ist eine Ehre bei Merežkovskij, doch das ist die Gestalt von Helden, nicht die der Gotteserscheinung. Die Gestalt der göttlichen Erscheinung wird erst durch das Prisma der Erinnerung an die Gotteserscheinung oder durch das Prisma der Romanerzählung „unpassend“. Das Göttliche erleuchtet auch den Alltag eines vergangenen Ortes – hinter jedem Gegenstand des täglichen Lebens im ersten Kapitel des Romans über Julian versteckt sich eine göttliche Erscheinung. Am Schluss von „Akropolis“ erfahren wir, dass Merežkovskij sich an den Augenblick der Seligkeit hoch über Athen erinnert, an einem regnerischen Herbstabend in seinem Arbeitszimmer in Petersburg. Mit den Worten, mit denen Merežkovskij das Wirtshaus von Syrax beschreibt, wird er Jahre später das Treffen von Aleksej und Ivan aus dem Roman „Die Brüder Karamazov“ beschreiben, und wird sie Erscheinungsszene nennen. Es zeigt sich, dass hier die Ästhetik von Merežkovskijder von Solov’ev gleicht. Aber ihr Pathos ist unterschiedlich. Solov’ev begeistert das Zerbrechen der Hülle der Materie und des daraus erwachsenden Bildes. Merežkovskij befürchtet, ähnlich wie Svidrigajlov aus „Schuld und Sühne“, die Ewigkeit könne wie ein Badehaus auf dem Dorfe voller Spinnweben sein. Am Anfang seines ersten Romans kämpft er gegen den aufdringlichen Gedanken und er scheint ihn zu vertreiben: das dörfliche Badehaus (das Wirtshaus von Syrax) ist „eine Ewigkeit“, doch die „Ewigkeit“ ist nicht ausweglos verschlossen[24].

Er hat keine Kraft, die vor ihm liegende „Ewigkeit“ zu genießen und lässt sie auf der Vorbühne. Diese ist kein Moment der Tragödie, sondern ihrer parodistisch-travestiven Umkehrung.[25] Die „Ewigkeit“ strahlt in ihrer ganzen Herrlichkeit über der Athener Akropolis[26] und der halbfertigen Aphrodite (Julian 1, V) – und ihre marmorne Dinglichkeit ist wohl kaum eine „grobe Hülle“. Der Alltag, während dessen die Aphrodite aus Stein gemeißelt wird, ist kein „erschlagener“, er ist „einfach“, „ungekünstelt“ und hell – er hat nichts mit jenem Badehaus gemeinsam.[27] Dieser Alltag ist nach dem Maß des Menschen – nicht nach dem des Spießbürgers, Floh oder Laus auf dem Leib der Erde. Der Alltag des Spießbürgers ist nicht durchdrungen vom Göttlichen, das ihm bedrohlich erscheint und Feuerzünglein entfacht, wie Lava eines erloschenen Vulkans.[28] (In der Vorstellung von Merežkovskij sind Aleksej und Ivan Karamazov keine Skudillos, kein Syrax und keine Gestalten anmarschierenden Pöbels, sondern sie sind Projektionen des denkenden Schriftstellers – in der Lebensnische von Skudillo und Syrax.[29] Der denkende Schriftsteller gerät oft da hinein – ungewollt. Auch von der Fläche und von dem Geiz dieser Lebensnische traumt er von den Alltag bei der Skulptur der Aphrodite. Aus der Erhöhung dieser Fläche, aus seinem Arbeitszimmer heraus, erinnert er sich an andere Höhen – die über Athen).

In „Akropolis“ bietet und predigt Merežkovskij eine stilisierte (wie nach Winckelmann) Vorstellung von der altgriechischen Bildhauerei – sie ist farblos (ohne Farbe, in naturbelassenem Marmor); sie hebt sich ab von der farbigen Glasmalerei, den Mosaiken und Malereien in Venedig und Neapel.[30] Er stellt Farbe und Plastik einander gegenüber[31]. In dem Abriss „Apollon Majkov“ „rät“ er nach einem Vorfall dem Dichter Maikov von Ernest Renan zu lernen, wie man die Christen aus den ersten Jahrhunderten zu beschreiben hat. Merežkovskij lehnt das Düstere und die Leere der „byzantinischen Stilisierung“ des Dichters ab. Er wiederholt Bilder von Renan, die, unserer Auffassung nach, die leuchtende Farbigkeit der plastischen Ausdrucksformen hinter einer durchsichtigen und undurchdringlichen Schranke zeigen – die schwerelose und absolute Schranke der neueuropäischen Malerei.[32] Der Kampf zwischen der Plastik (vor allem der Skulptur) und der Malerei bestimmt die künstlerischen Grenzen der Welt von Merežkovskij. Ein Ausdrucksmittel, das sich nicht zwischen diesen beiden Polen einordnen lässt, das nicht ein Werk ihrer gegenseitigen Beeinflussung ist, kann keine eigene Sprache haben, es ist nicht fassbar für Merežkovskij und wird als „Schmutz“ abgelehnt, als Nicht-Kunst. Hierzu zählt für ihn die spezifische Sprache der Ikonenmalerei. Doch der gegenseitige Einfluss zwischen Plastik und Malerei kann nicht irgendeiner sein, sondern er ist dialektisch, auch ohne in Dialog zu treten. Die gegenseitige Einwirkung von Farbe und plastischer (berührbar spürbarer) Form, was zum Beispiel charakteristisch ist für die Emaille und einer Reihe von Werken der „angewandten“ Plastik, ist für Merežkovskij ästhetisch nicht annehmbar. Farbe und Form, die berührbar sind, sind voneinander oder von dem Betrachtenden zu trennen: entweder sind sie Kunstwerke unterschiedlichen Typs, oder sie müssen von dem Rezipienten durch die garantierte „Keuschheit“ einer vorhandenen durchsichtigen und undurchdringlichen Schranke in der neueuropäischen Malerei getrennt werden. Diese Schranke oder „ästhetische Distanz“ macht die „unangebrachte“, wertlose Farbe annehmbar. Sie drückt den unästhetischen Drang nach ihr aus. Im Grunde genommen neutralisiert sie das Vorhandensein des Materials, aus dem das künstlerische Werk geschaffen wird. Farbe und Plastik bedingen sich einander, doch die Dinglichkeit ihres gegenseitigen Einflusses ist entfremdet, entdinglicht. Die Form ist berührbar, die Farbe ist anschaubar (aus der Entfernung). Farbe und Plastik bedürfen der körperlichen Entfremdung des Betrachtenden, um sich gegenseitig zu beeinflussen.[33] Die Farbe kann nicht „wachsen“ vor der plastischen Form, doch sie ist nicht tastbar. Die tastbare Form ist unmittelbar vorhanden, doch auch sie schafft so etwas wie eine Schranke vor dem Betrachtenden: bei Merežkovskij ist die Skulptur aus festem Material (Marmor) und kalt. Doch in der Malerei ist die tastbare Form notwendig nur mittelbar. Die psychophysiologische Entsprechung dieser Ästhetik ist die Zweieinheit von „Keuschheit“ und „Wollust“ – die Keuschheit des Berührens und die Wollust des Betrachtens. Das „berührende“ Betrachten ist abstrahiert von dem Gegenstand durch die durchsichtige und undurchdringliche Schranke, das „Unterpfand“ für die sog. „ästhetische Distanz“. Die Festigkeit und Kälte des Marmors behindern die Wollust der Berührung bis zur Keuschheit. Nichtkeuschheit ist zulässig, doch dann hat der Berührende keinen Kontakt zu dem Werk. Das Werk hat nur Anteil bei dem Kontakt des Betrachters mit sich selbst. „Kontakt“ ist nicht das richtige Wort für das Gefühl der Berührung bei Merežkovskij: genauer wäre „Erfassen“, soweit die ideale plastische Form die Maße einer menschlichen Gestalt hat und die Idee von ihr verkörpert. Keuschheit und Plastik sind bei Merežkovskij Bezeichnungen für den Kontakt des Menschen zu GottMerežkovskij, doch sie brauchen das „Andere“, die Wollust und das Betrachten, das die Welt von Merežkovskij möglich macht.[34] Diese Ästhetik und diese Psychophysiologie konzentrieren sich in der Gedankenwelt von Merežkovskij auf zwei Vergötterungen, auf zwei „Vergötterte“: Aphrodite und Artemis. Im Roman über Julian erscheint Artemis in der Gestalt der Arsinoe (1, XII), die dem Helden versprochen war und doch nicht seine Frau wurde. Die Ansicht von dieser Ästhetik und dieser Psychophysiologie bestimmt auch den persönlichen Lebensweg von Merežkovskij – in seinem tiefsten Inneren, in der Beziehung zu der geliebten Frau (seiner Ehefrau Zinaida Gippius). Es gibt keinen Zweifel an der Richtigkeit unserer Überlegungen.

Bei Merežkovskij gibt es auch Gotterscheinungen in anderer Form. Sie sind bereichert durch Gerüche, Erfassbarkeit und unmittelbar existierender, eindringlicher fast tastbarer Farbigkeit. Ihre Sinnlichkeit verdichtet sich bis zur Kunst – der Kunst des Geruches, des Hauchs und des Verweilens des Aufnehmenden in der lichttragenden oder verdunkelnden, berührungsempfindlichen oder vorwärtstreibenden Farbe.[35] Ihre Sensitivität kann sich zu einer Zeichnung verdichten oder zu einer Plastik mit unangebrachter Farbigkeit, eine Komposition oder aus bedenklichem Material. So eine Darstellung, ob plastisch oder nicht, ist entweder karikaturistisch oder falsch. Der armenische Wirt Syrax „gleicht einer Karikatur von Dionysos“; die goldene Zeus-Statue von Gaza erweist sich als hohl – mit verrostetem Gestänge darin und als Zuflucht für Ratten in ihrem Inneren. (Das innere der Statue weist wieder auf das dörfliche Badehaus mit den Spinnweben hin…) So eine Umgebung für das Erscheinen des Göttlichen ist irreführend; sie verspricht Selbsttäuschung und Misserfolg. Der erste Irregeführte im Roman über Julian ist der Karrierist Mark Skudillo, der die Prophezeiung eines Mannes, der einem persischen Magier gleicht, falsch „entziffert“ hat. Zeichen einer falschen Gotteserscheinung enthält die Szene von Julians Einweihung in die Orphik (1, X). Das sagt die Tragödie in der eigentlichen Tragödie des Romans voraus, nicht in den parallel laufenden Strängen des satirischen Dramas, der Komödie oder der Parodie.

In der klassizistischen Welt von Merežkovskij ist der Irreführende der Gott Dionysos. Dionysos ist der Name des Symbols, das alle falschen Gotteserscheinungen im Roman erfasst und ihnen Sinn gibt. So ist Dionysos in einigen antiken Quellen beschrieben: als der Betrüger, der Provokateur, der aus dem barbarischen Osten stammt und den Griechen und Alexander von Mazedonien persönlich feindlich gesinnt ist. Wäre Merežkovskij konsequent seinem Hellas-Zentrismus treu, gäbe es in seinem Roman wahrscheinlich einen Hinweis darauf, dass auch der „Galiläer“ Jesus Christus die Hypostase dieses Dionysos ist. Auch eine solche Auslegung wäre möglich: der doppelgesichtige Dionysos in seiner Griechenfeindlichkeit blendet Julian derart, dass der in dem „Galiläer“ nicht nur keinen Feind, sondern auch keinen Freund sieht. (Die Ähnlichkeit zwischen Alexander und Julian ist offensichtlich, Merežkovskij hebt das im Vergleich der beiden explizit hervor).

Die Auftritte von Dionysos führen den Protagonisten in die Irre; das Erscheinen von Aphrodite und Artemis geben ihm Unterstützung; doch beides zieht ihn an und treibt ihn zum Handeln – zum Konflikt oder zur Lösung. Die Erscheinungen des christlichen Gottes sind Erscheinungen der dritten Art. Sie ziehen den Protagonisten nicht an und bewegen die Handlung nur indirekt. In unserem Gedächtnis als Leser des Romans über Julian tritt nur eins deutlich hervor – der erbarmungslose Christus der Alleinherrscher auf dem Mosaik in einer Basilika in Kappadokien (I, IV). Die verdichtete Beschreibung eines Werkes der Ikonenmalerei kann sich nicht einmal in die Beschreibung einer Gotteserscheinung verwandeln, sei es auch ein Gott, vor dem der Held flüchtet. So ist das Bild des Glaubens und die Kunst dargestellt, die weder Merežkovskijs Held noch er selbst als das Seine gewählt haben. Später wendet sich Merežkovskij diesem Glauben zu, doch für immer hat er sich von dessen Kunst entfernt, an der weißen Wand in seinem Arbeitszimmer hängt ein kleines hölzernes Kreuz.

Schlussfolgerungen

Das Drama und das Epos des Romans über Julian den Abtrünnigen erweitern und verdinglichen die philosophische Lyrik der Reisebeschreibung „Akropolis“ von Dmitrij Merežkovskij. Das zeigt der Chronotopos des Romans, sein künstlerischer und historiosophischer Ideengehalt, der Titel des Romans, der ihm seinen Platz in der Trilogie Christus und Antichrist zuweist: Der Tod der Götter.

In der „Signalposition“ von Teil I Kapitel I des Werkes entsteht die Handlung nach dem Prinzip der „Zweideutigkeit“, welches ihre Zeichen- und Ideenstruktur bestimmt, es taucht auch gedanklich das Rad der Fortuna auf, das nacheinander Porträtpaare vorführt, die das trügerische menschliche Schicksal verkörpern, auf dem Hintergrund des Staates als Schiff oder der Kirche als Schiff, die auch den „Launen der Fortuna“ unterworfen sind. Auf dieser Grundlage können wir folgern, dass der Topos, der die gesamte Struktur des Romans bestimmt, das „klassizistische Symbol“ ist, im Sinne von Lev Pumpjanskij (es gibt auch wesentliche Momente des Symbols nach der Auffassung von Aleksej Losev).[36]

Der Roman ist besonders reich an intertextuellen Hinweisen auf Werke der antiken Literatur (griechischer und römischer), die den Sujetaufbau, den Chronotopos und die Wahl der Personen als Modell bestimmen, ebenso wie das Verhalten des Erzählers, der seinen Helden schafft, wie auch die Personen, die sich selbst ihr Schicksal schaffen. Diese verborgenen antiken Quellen sind wesentlicher für das Werk als die historiografische Grundquelle über das Wirken von Julian – „Res Gestae“ von Ammianus Marcellinus.

Die verstärkte Verwendung von Texten aus der antiken Literatur im „Gedächtnis“ des Romans ist wahrscheinlich ein Beweis, dass die antike griechisch-römische Bildung Teil der aktuellen Verstandeskultur des Menschen ist, wofür der Erzähler als Beispiel stehen kann. Wir können nicht sicher sein, dass alle von uns entdeckten fremden Texte die Auffassungen Merežkovskijs beeinflusst haben. Aber eben auch die, die „ungewollten“ „Hinwendungen“ an diese Literatur, belegen und unterstützen unsere Behauptung. Das Schreiben eines historischen Romans verpflichtet den Schriftsteller nicht, im Untertext verstärkt die Literatur der „wiedergegebenen“ Epoche zu zitieren. Merežkovskij selbst, wenn wir uns an dem von ihm Gesagten über zeitgenössische Aufführungen altgriechischer Tragödien orientieren,[37] ist kein „Archaisierer“: er ist kein Streiter für archaisches Theaterrequisit, und es hat auch nicht den Anschein, dass er ein Streiter für die „Erweiterung des Künstlerischen“ durch die Rückkehr zum Ritual ist, er lässt es sich nicht nehmen, von diesen Aufführungen zu verlangen, sich zeitgenössischen (modernen) Problemen zuzuwenden. In diesem Sinne nähert sich die Position Merežkovskijs der von Innokentij Annenski an, nicht der von Vjačeslav Ivanov: Modernisierung, nicht „Archaisierung“.[38] Der Roman über Julian spricht von einer mittleren Position, die beide Pole umfasst. Julian ist das Selbstbildnis der von Merežkovskij dargestellten „intellektuellen Generation“, vgl.: „Sehr frühe Vorboten eines sehr verspäteten Frühlings“. Diese Lesart findet ihre Unterstützung in der von Merežkovskij oft verwendeten Figur der historischen Analogie. Eine andere Frage ist, wen, was für einen Menschen, modelliert er in der Gestalt seines Erzählers,:den kultivierten Petersburger, den neuen russisch-europäischen Intellektuellen, einen erneuerten intelligenten Russen, einen Künstler der Moderne, den „mittleren“ „gebildeten Menschen“ in Russland? Von den Aufgezählten würde ich vor allem den „Künstler der Moderne“ nennen.

In dem Werk wird ein einheitlicher griechisch-römischer Kosmos geschaffen, in dem „das Andere“, darunter das „Östliche“, sich auf eine Weise zeigt, die aus den Modellen der „kulturellen Kolonisation“ bekannt ist, wie sie die Griechen schon seit Herodots Zeiten praktizieren. D.h., dass der Roman – sowohl implizit als auch explizit, – den hellenischen, oder helleno-zentrischen Blickwinkel auf die Welt vertritt; er ist bereichert durch ästhetische und allgemein ideologische Momente im Denken von Hellas (im Rahmen des Romans im Denken an sich selbst), „vererbt“ vom Weimarer Klassizismus und – in geringerer Weise – von Nietzsche. Merežkovskij (oder sein „allsehender“ Erzähler) vertritt auch die Logik des Unterscheidens zwischen „arisch“ und „semitisch“ in der kultur-historischen Umgebung des Mittelmeerraums, die bei Renan vorhanden ist[39], die Auffassung vom Christentum selbst folgt den Auffassungen von Renan und Nietzsche („Antichrist“, „Also sprach Zarathustra“). Neu im Vergleich zu dem lyrischen Reisebericht „Akropolis“ ist die Behandlung des „persischen Themas“, es ist im Sinne von Nietzsche („Also sprach Zarathustra“) und auch von V. Solov’ev („Ex oriente lux“, „Der Feind aus dem Osten“). Der Mechanismus des Erkenntnisverlaufs gleicht dem Nietzsches: die östlichen Figuren (Zarathustra und die ganze persische Topik) sind bedingte Merkmale der Selbsterkennung (der Geist Hellas erkennt sich selbst, einschließlich „Hellas nach Hellas“, durch und in der Gestalt des Protagonisten Julian zum Beispiel). Die Unterscheidung zwischen dem christlichen und dem persischen Osten, die als historisches Phänomen gleichgestellt sind, entspricht der Auffassung von Solov’ev. Anders als der Philosoph bevorzugt Merežkovskijnicht kategorisch den christlichen Osten(s. Ex oriente lux); der persische trägt nicht nur Gefahr in sich (wie bei Solov’ev), sondern provoziert auch durch erneuernde Möglichkeiten (wie bei Nietzsche). In der Aufnahme der „Linie Solov’ev“ liegt die Möglichkeit, wenigstens einen der „Osten“ zum Subjekt der Selbsterkenntnis werden zu lassen und die Lage zu überwinden, ein Objekt des Fremden zu sein.

Schlussbemerkung

Der Mensch ist ein tragischer Held und ein Held von Tragödien – wie im persönlichen Leben, so auch in der Geschichte. Die innere Form der Geschichte ist die Tragödie und sie bezieht sowohl das Individuum als auch menschliche Gruppen ein. Dieser Gedanke strukturiert den Roman von Merežkovskij „Julian der Abtrünnige“. Gleichzeitig widersetzt sich der Roman diesem Gedanken. Der Zeitgenosse von Julian und von Merežkovskij wird nicht beschenkt durch die Fülle des Lebens, wie der tragische Held und der Held der Tragödie. Der Sinngehalt der Tragödie ist erweitert. Er ist auch in anderer Richtung erweitert, er nimmt ein neues Thema auf: Julian und Merežkovskij sind durchdrungen von dem Glück, ihre geistige Heimat zu finden (für beide ist es Hellas), doch die Erzählung über ihre begeisterte Verletzlichkeit ist nicht episch (wie die Odyssee), sondern dramatisch.

Dieser Roman ist die Summe von antiker Tragödie und der Widerspiegelung ihrer Fabel in Mikrotexten aus anderen Genres (Komödie, Parodie, plutarchischer Roman, Idylle, Elegie). Natürlich gleicht die Erzählung die Nachahmung der Handlung aus. Und der Roman gestattet es, in den Tragödieninhalt Repliken aufzunehmen, die den Inhalt deuten. Wir spüren das „Relief“ der Handlung, weil uns 1. Namen; 2. Situationen (Fragmente bekannter Inhalte) und 3. kompositorische Besonderheiten daran erinnern. Als Erinnerung dienen ein „fremder“ Text oder „fremde“ Texte. Der Roman über Julian ist eine Anthologie der griechisch-römischen Literatur, das sichtbare Kompositionsskelett der Anthologie ist der Romaninhalt. Auch der pädagogische Roman, die „Replik“ der „Kiropedie“ von Xenophon (dem Wort Replik messen wir keine ästhetische Wertung bei). Und die belletristische Darstellung historiosophischer, kulturphilosophischer und ästhetischer Anschauungen; es fließt auch ein bemessener Anteil von Phantasie ein (der Pilger unterhalb und vor der Athener Akropolis).

Der (als erster Teil) in der Trilogie aufgenommene Roman „Christus und Antichrist“ ist vergleichbar mit der attischen Tragödie innerhalb der dreiteiligen Tragödie (begleitet von einem satirischen Drama). Das bezieht sich auch auf den Roman von Dostoevskij, den Merežkovskij als Ansammlung von den fünften Handlungen in vielen/einigen Tragödien (s. „Dostoevskij“, in dem „Ewige Gefährten“[40]) interpretiert[41].

Die Besonderheiten in der Struktur des Romans führen uns zu der traditionellen Frage, die die Literaturwissenschaft immer wieder stellt: Wie geht der Schreibende theoretisch und mimetisch an ein und dasselbe Problem heran?

Merežkovskij lässt sichtbar und künstlerisch seine geistige Heimat auferstehen, im Sinne von Zeit und Raum, beschwert durch Mythen, und ich möchte hinzufügen – tragödiengeschwängert.[42] Das psychische und semiotische Gewebe in der Chronotopik des Romans ist reich an verdichteten, nicht erzählten Tragödien, Komödien, Parodien u.a. Wahrscheinlich ist das so in jedem Roman, und auch „im Leben“ ist das so. Das Besondere hier ist, dass im Brennpunkt und auf den Kreuzwegen des Romans der tragische Held und die tragische Handlung stehen (und seien sie auch durch die Erzählung deformiert). Die Unterschiedlichkeit der nicht ausgeführten Bedeutungen verwandelt sich in einen Strudel voller Ansätze zu Formen, die ihren Sinn genau im Lichte der Tragödie erhalten, in ihrer Anziehungskraft und ihrem Abstoßend-Sein.

Wir haben mehrfach betont, dass wir Dionysos erkannt haben (den falschen und den echten) in demjenigen, der Julian feindlich gegenüber steht. Wenn wir ihn erkennen, dann hat der Erzähler (nicht der Schriftsteller) indirekt angedeutet, dass Julian in die Handlung der Tragödie einbezogen ist. Doch Julian ist ein Held der Tragödie nur auf der Ebene der Namen, der Sprache. Beim aufmerksamen Lesen entdeckt man, dass auch sein Charakter in die Tragödie gehört und in den Charakter der Situation, in der unvereinbare Gedanken aufeinander stoßen. Wir sagten, dass die Erzählung nur „Inseln“ in der Fabel der Tragödie hinterlassen hat.

Diese nicht-szenische, nicht-dramaturgische „Glattheit“ kann gewollt sein. Vielleicht ist auch nicht die Tragödie die „innere Form“ des Romans. Vielleicht drückt Merežkovskij (durch die „Polyphonie“ der Gestalten, durch Einklänge unterschiedlicher Art und emotionaler und Genre-„Register“) symbolisch die Geburt der Tragödie aus – ihre Geburt aus dem Geist der Plastik, aus dem Geist der lebendig werdenden architektonischen Skulptur der Akropolis in Athen.

Und auch die Geburt der Tragödie aus der Erfahrung, den Sieg des provozierenden Dionysos in seinen, den menschlichen Sieg umzuwandeln.[43] Der historiosophische Konflikt zwischen Hellas und dem Osten ist Ausdruck des anderen, zwischen dem Menschen und Dionysos. Wenn die Leiden des Gottes, die Leiden von Dionysos aufhören, vorgetäuscht zu sein, kann der historiosophische Konflikt auch eine andere Lösung finden; nicht nur die, die den Ausdruck der Überlegenheit des Gottes ausgleicht. Das ist ein anderer Typus Kunst, ein anderer Typus Verhältnis von „Amphitheater“ und „Theater“. Doch das ist nicht Hellas.

Die attische Tragödie und die plastische Skulptur sind nicht vereinbar mit dem Sakrament des Kreuzes.

© Übersetzung Hannelore Pantschewska

Die Übersetzung wird durch den Europäischen Strukturfond zur Förderung der menschlichen Ressourcen 2007-2013 als Projekt BG 3051 PO001 – 3.3.04/61 finanziert.

Notes

[1] Ich möchte Professorin Susanne Frank für das Lesen und das literaturwissenschaftliche Redigieren des deutschen Textes meiner Studie herzlichst danken.

[2] Bem. der Übers. dieser Studie: Der Name des Romanautors ist im Original in kyrillischen Buchstaben geschrieben und wird – zeitabhängig – auf verschiedene Weise ins Deutsche transliteriert: Mereschkowski (älteste Form), Mereschkowskij, Mereshkowski, Merežkovskij. Der Julian–Roman, begonnen 1890, erscheint 1895 in der Petersburger Zeitschrift „Severnyj vestnik“ unter dem Titel „Der Ausgestoßene“ und 1896 als selbständige Ausgabe als „Der Tod der Götter. Julian der Abtrünnige“.

[3] Zuerst wurde der Roman ins Spanische (und Englische) übersetzt (Stammler 1966, 195). Hier lasse ich diese, meiner Meinung nach, vielsagende Tatsache beiseite. Das Thema über Merežkovskijs Unterbewertung in der russischen Kultur und, im Gegenteil, seine Anerkennung in Deutschland wird von Heinrich Stammler in einigen seiner Werke aufgegriffen (1966, 195-197; 1967; u.a.)

[4] Ich weise zum Beispiel auf die Publikation im amerikanischen Internet-Archiv hin (der erste Band der Gesammelten Werke von 1914 – eine Ausgabe digitalisiert von der Universität Toronto): http://www.archive.org/details/polnoesobranieso01mereuoft.

[5] Wie bei Hegel. Unsere assoziative Reaktion diese Formulierung wiederzugeben, beruht auf dem Buch von Christov 2010, 132.

[6] Die Knappheit als virtuell-visuelles Element der „inneren Form“ oder als esoterisch gekennzeichnet, bedeutsam für das Sujet- und gestalteten Hintergrund (nicht den „natürlichen“, sondern den Hintergrund der Ideen) wird bereits im ersten Absatz des Romans angedeutet. Die „Andeutung“ zeigt sich als Emblem: ein „subtiler“ Hinweis im akzentuiert-materiellen Bild (Averincev 1985). Auf der Ebene der rhetorischen Figuren des Textes – das Emblem. Auf der Ebene des tatsächlich Gesagten – die Ekphrasis; (der Blick, der über die Aufschrift auf dem Stein gleitet). Auf der Ebene der Tropen – das Epigraph, eine naturalistisch skizzierte vorhandene Inschrift (im Chronotopos), das als Epigraph zum Romantext gilt. (Das Subjekt der drei elliptischen Sätze ist eine Wortbildung angedeuteter Knappheit). Die angedeutete Knappheit im ersten Romanabsatz ist ein Emblem, eine Ekphrasis und ein Epigraph (des Romans, aber nicht nur des Romans).

[7] Eine Begründung für die Konstruktion dieses Begriffes fand ich in seinen Arbeiten „K istorii russkogo klassicizma“ (1923–24), „Dostoevskij i antičnost’“ (1922), „Pamjati V. J. Brjusova“ (1924), in: Pumpjanskij 2000. Ebenfalls bei Aleksej Lossev. – Bei meinem Versuch, die Texte von Pumpjanskij zu vergleichen, erwies sich die „Anleihe“ als illusorisch. Bei Pumpjanskij existiert sie „in der Luft“ und in ihren potenziellen Elementen und unterstützt die Begründung seiner Behauptungen. Ein Beispiel für das, was der bulgarische Literaturwissenschaftler R. Kolarov bei der Untersuchung der Autotextualität als Art der Intertextualität „virtuelles Bild“ nennt. „Die Transformierung eines Textes in einen anderen (…) vollzieht sich in Zwischenstufen (…). Oft beginnen der kreative Impuls und das Programm für einen neuen Text bei einer solchen Zwischenstruktur, die aus im Gedächtnis bewahrten Textfragmenten besteht, über die der Hypotext keine konkreten Instruktionen geben kann.“ (Kolarov 2009, 174-175).

[8] Im Unterschied zum Klassizismus des 17. und 18. Jahrhunderts und des Klassizismus bei Puschkin, der eine Umschau aller nur denkbarer Möglichkeiten im Rahmen einer zählbaren Vielzahl einer endlichen Welt/eines geschlossenen Alls beweist (eine Poetik, ausgezeichnet analysiert von Lev Pumpjanskij: „Ob isčerpyvajuščem delenii, odnom iz principov stilja Puškina“ [1923]; und in anderen Werken, in: Pumpjanskij 2000), versucht der klassizistische Symbolismus, die üble Vielzahl der einen schon unendlichen Welt zu einer übersichtlich zählbaren und überschaubaren Zahl von Elementen zu verengen. Eine zählbare Anzahl größerer Elemente. Wenn wir getreu Pumpjanskijs Auffassung vorgehen, müssen wir also von einem klassizistischen Symbolismus sprechen. Und „Symbolismus“ würde hier die „Weltsicht“ bedeuten, eine Weise des Weltaufbaus in der Großen Zeit der Geschichte. Bei Lomonossow wäre das der „klassizistische Symbolismus“ des Klassizismus; bei Puschkin – der „klassizistische Symbolismus“ der klassizistisch-romantischen Synthese; bei Merežkovskij – der „klassizistische Symbolismus“ des Symbolismus (oder der frühen Moderne) oder der Dekadenz. Ich wollte den schwerfälligen Begriffsformulierungen entgehen. Der Symbolismus im Sinne der frühen Moderne versucht von neuem eine bereits desillusionierte Welt in seinen Bann zu schlagen, um sie zu dem Symbolismus tausendjähriger Überlieferungen zurückzubringen, zum reflektiven Traditionalismus, dem rhetorischen Rationalismus oder der Kultur der Metonomie, wie andere Termini dafür heißen. Die frühe Moderne von Merežkovskij bezeugt ein solches Bemühen um ein Klassizisieren im doppelten Sinne; denn es weist auf den Symbolismus der Tradition hin und bietet eine attizistische Vereinfachung der Tradition und der Gegenwart, der sich die Einordnung und die Erfassung der gedachten Sicht zuordnen lassen.

[9] Reisebeschreibung. Erster Teil in dem Buch „Ewige Gefährten“.

[10] Hier nähert sich Merežkovskij der Vorstellung des antiken Kosmos von innen heraus an.

[11] Porträt-Diptychone oder Doppelporträts (Doppelabbildungen), wie ich sie bezeichnen würde. S.: Gueorgiev 1992; Gueorgiev 1999.

[12] Arsinoe ist die Tochter einer Germanin; „in ihren unregelmäßigen Gesichtszügen zeigt sich frisches nördliches Blut“ (Teil 1, Kapitel XIII, S. 107; den Roman zitiere ich nach der Ausgabe: Merežkovskij 1906). Arsinoe besitzt die hellenische Bildung und die Tugenden, die auch Julian besitzt, doch im Gegensatz zu ihm 1.) verbirgt sie sie nicht hinter der Maske der Heuchelei (siehe „der Löwe in der Eselshaut“ (1, XIV, 111) und 2) ist sie schön. Das frische nördliche Blut ist ihr anzusehen, Julian ist ein „wilder Barbare, ein Midier“ nach seiner Herkunft, hat schweres nördliches Blut (erst im T. 1, Kap. XXIII erwähnt.). Das barbarische Blut hilft Arsinoe, der Entartung zu entgehen, doch bei Julian bewirkt es etwas völlig anderes, er hat nicht die Leichtigkeit, den Frohsinn, durch die sich die Männer von Hellas auszeichnen (XXIII, 189–190). Arsinoe öffnet sich allmählich dem Christentum (in seiner wahren, nicht der „verstaatlichten“ Form), Julian, der lange die Haut des Esels getragen hatte und sie letztlich doch abwarf, kann sich lange nicht mit den „Eseln“ abfinden.

[13] Heinrich Stammler nennt sie berechtigterweise “die verkörperte Artemis” (Stammler 1966, 194).

[14] V. Ivanov, Prometej, in: Ivanov 1995 (2), 31-86.

[15] Ebd., 337 (aus dem gegenwärtigen Kommentar zur Tragödie).

[16] Vom Gesichtspunkt der christlichen Exegese ähnelt Julian einem geheimen (aber auch sich selbst nicht davon bewusstem) „Freund Gottes“.

[17] Durch Signalbilder: die heilige Quelle, die einstmals Castor und Pollux geweiht war, doch in der Romanzeit den Hl. Brüdern Kosma und Damian; der zweiköpfige Gipfel Argeus, der Umhang der Wirtin Fortunata u.a. Darauf komme ich im Weiteren noch zu sprechen. Ohne „langsames Lesen“ zeigt sich diese den antiken Kosmos repräsentierende, Physiologie (Medizin), Alchemie und Semiologie verwendende Wandelbarkeit kaum. Eine Signalbedeutung haben auch Porträteinzelheiten wie das krankhaft gelbliche Gesicht Antonins (1, ІХ), sowie die „angenehme gelbliche Weiße“, etwa wie „dichte Sahne“ des Gesundheit ausstrahlenden Gesichts von Fortunata (1, І).

[18] Dieser wurde schon im 1, I mit dem Signalnamen „Fortunata“ angedeutet. Der Abschnitt mit den Tempelgänsen im 1, VІ erklingt wie ein superdichter Akkord, welcher die Perspektiven der antiken Literatur und der römischen Geschichte in einem parodistisch-travestischen Klangbild kombiniert.

[19] Ich meine die Cäsars Verkleidung (und/oder Identitätswechseln).

[20] Den Impuls, jene Episoden im Merežkovskijs Roman mit den Petronius- und Apuleusromanen gleich zu setzen, verdanke ich den Bemerkungen von Michail Bachtin über den römischen Roman (den hellenistischen Roman aus römischer Zeit): Bachtin 2000, 42-43.

[21] Eine Nebenbemerkung: man soll die Gemeinsamkeiten zwischen Merežkovskijs Poetik, wie von H. Stammler charakterisiert (1967, 151), und die Poetik der Romane von Dostoevskij, wie von Merežkovskij beschrieben (1914 (18), 5-32), nicht unterschätzen.

[22] Bei der Benutzung dieser Metapher meine ich nicht nur die psychische (intonationelle) und die numerologische (zahlenmäßige) Ähnlichkeit zwischen dem Juliansroman und der Elegie, sowie zwischen der Trilogie und dem Sonett, sondern auch die folgende poetologische Tendenz, die bei Merežkovskij erscheint: die unzählbare Menge von kleinen Elementen wird in eine zählbare und sogar visuell zu erfassende Menge von großen Elementen oder Einheiten verwandelt.

[23] Nach dem völlig berechtigten Hinweis von Boris Grifzov (1911) scheint es, dass die Bedeutung dieser Reisebeschreibung von den über Merežkovskij Schreibenden unterschätzt wird.

[24] „[…] Der schwere, dunkelrote, aromatische Wein ergoss sich in die Gläser. Der Schnee schmolz vom Feuer des Weins. Die Kristallwände der Gläser beschlugen und schwitzten in der Kälte […] Hinter dem kleinen vergitterten Fenster sah man das matte Licht des mürrischen Abends. Der Regen rauschte eintönig. / Weiter hinten, hinter der dünnen Lehmwand mit den vielen Rissen war der Stall. […] Ein Mann in seltsamer orientalischer Kleidung näherte sich seiner Schwelle.“ (1, I). „[...] [M]an hatte in diesen Tagen die Zeusstatue in Gaza zerstört. […] Sie war beeindruckend, Furcht einflößend: aus Elfenbein und Gold, mit Blitzen in den Händen. Doch innen – Spinnweben, Mäuse, verrostete Stangen […]“ (1, VIII). – Die zitierten Textstellen des Romans sind übersetzt von der Übers. dieser Studie, da es, wie unter Fußnote 1 aufgeführt, mehrere Übersetzungen ins Deutsche gibt.

[25] „[…] Der Wirt eilt herbei. […] Er sah aus wie eine Dionysos-Karikatur […]“ (1, I).

[26] D. Merežkovskij, Akropol’, in: Merežkovskij 1914 (17), 7-18. – „Und als die Türen sich schlossen, schien es mir, dass meine ganze Vergangenheit, die Vergangenheit der ganzen Menschheit, die zwanzig schmerzerfüllten, verworrenen und traurigen Jahrhunderte dort verblieben, hinter mir, hinter der heiligen Schranke, und nichts kann die hier herrschende Harmonie und ewige Ruhe zerstören. Endlich trat in mein Leben etwas, weswegen es sich lohnte zu leben.“ (ebenda, S. 14).

[27] „Die Zimmer waren klein, eng, beinahe wie Puppenstuben, doch freundlich, obwohl sie eher ärmlich als prächtig eingerichtet waren. […] Doch jede Kleinigkeit war wunderschön. […] Alles lächelte freundlich in diesem Häuschen, war in Sonnenlicht getaucht. […] Es lächelte der kupferne Poseidon auf dem Fuß des Leuchters. Die Gesichter der Bewohner des Hauses lächelten. Sie sind schon fröhlich geboren worden.“ (1, V).

[28] Ich behaupte, der Text von Merežkovskij lebt von Allusionen, hier ein Abschnitt aus der „Geographica“ von Strabon. „Zwanzig Stadien von Cäsarea von Kappadokien, in den waldigen Bergen des Argäischen Gebirges, an einem römischen Wege, gab es eine heiße Heilquelle. […] Auf der anderen Wegseite, der Heiligen Quelle gegenüber, lag ein kleines Wirtshaus. Es galt als zweifelhaftes Haus. […] Syrax aber war schlau, er wusste, wem er Bestechungsgeld zustecken musste und rettete jedes Mal seine Haut. […] Der Tribun erklärte, dass er wisse, in wessen Haus der pamphilische Händler Glabrion ermordet worden sei und dass er das wahre Gesicht des Siraks enthüllen werde.“ (1, I). „Nach einem kurzen Stück Weges gelangen wir zu einer Ebene, die von Feuer erfasst ist und von brennenden Gruben, […] Hier und da ist der Boden sumpfig, doch nachts entzündet er sich und steht in Flammen“, (Strabon Buch XII, Kap. 2, § 7).

[29] Das (religiös-philosophische) Buch enthält Publikationen zu sozialen, politischen und literarischen Themen (1905). In deutscher Übersetzung: Der Anmarsch des Pöbels, Übersetzt von Harald Hoerschelmann, München und Leipzig 1907.

[30] Allusorisch. „Drei Wochen lebte ich in Florenz. […] Dank des Sonnenlichts, dank der Luft […] sieht dort alles wunderbar aus, jeder Gegenstand, sogar der prosaischste, erscheint wie eine Skulptur. Die Farben – nicht nur hell, wie in Neapel und Venedig zum Beispiel, sind eher gedämpft („trauernd“) und nicht kontrastreich, dafür aber sind die Berge in der Ferne, die Bäume am Horizont, die mittelalterlichen Gebäude – jede Form, alles, was hervortritt, wie aus einem besonders wertvollen Material gemacht.“ („Akropol’“: Merežkovskij 1914 (17), 7).

[31] Die Farbe erscheint auf der Oberfläche von Plastiken grotesk-verzerrt, bis zur Unkenntlichkeit – Güsse von fettiger Suppe… (Julian 2, I). Sie ist nicht einmal Patina. Übrigens ist die Verpoetisierung der Patina ein Signal für eine umgekehrte Ästhetik – und gleichzeitig historiosophisch eine Strategie. Sie ist die Kehrseite der Strategie der Farbsicht, in der die Unverträglichkeit von Schmutz-Staub und Staub-Schmutz zum Ausdruck kommt.

[32] „Lesen Sie noch einmal den herrlichen Band von Renan «Les apôtres» oder «Saint Paul»: sie werden hier die lebendigen Gestalten von blassen und hysterischen Frauen und Mädchen erblicken, […] erfüllt von brennender, beinahe schmerzhafter Liebe, grenzenloser Phantasie […] die dunklen Gewänder der Nonnen, die geheimnisvollen Zusammenkünfte voller äußerster Askese einer flammenden und keuschen Gefühlswelt […]! („Apollon Majkov“, Ebenda (18), 83).

[33] Diese körperliche Entfremdung des Betrachtenden (des Modellierenden, des Fordernden) verwandelt ihn selbst in eine (echte) Skulptur, obwohl sie lebt, also aufnahmefähig ist. Die Skulptur ist die ideale künstlerische Form, sie ist auch, wie man hier sieht, die potentielle ästhetische Vollendung (aktuell und immer) des unvollkommenen Menschen.

[34] Diese Welt ist verdinglicht und beruhigenderweise in die Antike verlegt. S. den Abriss „Die Tragödie der Wollust und der Keuschheit“ (Ebenda, Bd. 17, S. 19–24); dorthin verlegt, ist es vor Verletzbarkeit geschützt, eine Verletzbarkeit, die es geben würde, wenn sie aktuell wäre. Die Aktualität ist im Kontext des Romans ersichtlich. Wenn es eine Möglichkeit gibt, sich direkt dazu zu äußern, beeilt sich Merežkovskij, sie in der Antike zu verbergen: als Fakt der Weltsicht und der Psychophysiologie, der sich aus der und in der antiken Tragödie ergibt.

[35] „[…] Die Flamme, gleichsam von diesem traurigen Klang, wird gelblich, verdunkelt sich, loht wehmütig-zärtlich auf, wird blass-bläulich […]“ (1, I).

[36] Losev 1976.

[37] „Die Tragödie der Keuschheit und Wollust“ (der Beitrag ist in einigen Ausgaben der „Ewigen Gefährten“ aufgenommen, s. z.B. „Polnoe sobranie sočinenij“ 1914).

[38] Koreckaja 1989; Kelly 1989.

[39] In den Werken von Merežkovskij lebt auch der Syrier aus den „Aposteln“ von Renan (s. Renan, 194-195).

[40] Merežkovskij 1914 (18), 5-32.

[41] Ebenda, S. 11. – Die Ironie des Schicksals oder die Ironie des interkulturellen Kontakts ließ diesen Gedanken aus dem Jahre 1890 unbemerkt oder unterschätzt, sowohl in Westeuropa, als auch in Russland: die einen wohl auch auf Grund des entschiedenen Einfluss von Tsvetan Todorov und Julia Kristeva, die von Michail Bachtin und seiner Philosophie des Dialogs und der Theorie des polyphonen Romans gefesselt war, die anderen wegen der Möglichkeit, symbolisch Kapital anzuhäufen für den heimischen oder internationalen Gebrauch... Weiter oben in dem Text habe ich die Formulierung ungenau zitiert, ich schrieb „Dramen“ anstelle von „Tragödien“, doch bleibe ich bei dieser Formulierung.

[42] „Doch in der Frage nach der Herkunft der Tragödie darf man nicht die Eigenart der griechischen Legenden vergessen. Die Mythen der Hellenen enthielten viele nicht zu Ende erzählte Tragödien. [...]“ (Annenskij 1906, 19). „In dem Gerüst der Mythen fühlt man bereits die Tragödie. Die Tragik trägt die wertvolle Möglichkeit in sich, aus mehreren einzelnen Mythen ein eigenes Theaterstück zu flechten“ (ebenda).

[43] Dionysos straft den Schuldigen, indem er provoziert, verwandelt oder sich selbst verwandelt, täuscht: Die Leiden des Gottes sind gespenstisch, doch die Leiden des von ihm herausgeforderten Menschen, ihn zu provozieren, sind echt. Die „alltägliche Doppelseitigkeit“ zur Verwandlung (von Dionysos als auch des getäuschten Opfers) war eine närrische Maskerade, die alltägliche Doppelseitigkeit des gespenstischen, doch in seinen Folgen schrecklichen Kampfes von Dionysos mit den Menschen wurde zur griechischen Tragödie“ (Annenskij 1906, 18). Der Mensch sucht nach einer Möglichkeit, das Prinzip, nach dem er real und fiktiv keine „existentielle Gleichgestelltheit“ hat, zu seinem Gunsten umzukehren. Antigone „stirbt im Theater, doch sie lebt im Amphitheater“ (21).

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